Das Nahe und das Ferne
von Susanne Brandt
Die Zutaten:
Persönlicher Einsatz, Weltverbundenheit und moderne Kommunikationsmittel
Dieser Erfahrungsbericht, der die aktuelle Diskussion über unsere Anstrengungen zum Klimaschutz aufgreift und von der aktiven Verständigung über Grenzen hinweg erzählt, eröffnet uns den Blick in die Welt.
Wir danken Susanne Brandt für Ihren Beitrag.
Mein großer Rucksack stand Woche für Woche gepackt im Flur. Januar und Februar 2020 waren Reisemonate. Keine Urlaubswochen. Mein Berufsalltag war geprägt von Zeiten der Begegnung und des gemeinsamen Lernens an verschiedenen Orten: inspirierend, überraschend, kommunikativ, manchmal auch anstrengend. Denn der Rucksack voller Bücher war schwer und der Zeitplan zwischen Bürozeiten hier und Workshop-Terminen anderswo oft eng getaktet.
Mit Engagierten aus Bibliotheken, Schulen und Kitas bin ich immer wieder neu der Frage nachgegangen, wie wir das Leben auf dieser Erde heute und in Zukunft gut miteinander gestalten können. Ganz besonders im Blick auf das Leben mit Kindern. Welche Bilderbücher und Geschichten erzählen etwas von den Schätzen und den Gefährdungen der Natur? Mit Poesie und Fantasie. Denn beides brauchen wir – neben dem nötigen Fachwissen – um eigene Bilder und Worte für die großen Fragen nach Frieden und Gerechtigkeit, Vielfalt und Klimawandel zu finden.
Im Kern geht es dabei um ganz sinnliche und lebendige Dinge: um Wasser und Bäume, Länder und Menschen, um wechselnde Perspektiven – und um ein großes Staunen.
Die dafür so wichtige Zeit und Muße fand ich vor allem unterwegs.
Auf den langen Bahnfahrten von einer Station zur nächsten, konnte ich die Eindrücke und Ideen aus den Begegnungen in Ruhe notieren und nachwirken lassen. So war jede Reise immer auch eine Gedankenreise.
Keine Bahnreisen mehr. Keine Workshops. Keine Arbeitskreise und Kongresse in anderen Städten. Ein Teil meiner Arbeit sollte von nun an am Schreibtisch daheim stattfinden, per E-Mail, Telefon und Video-Konferenz.
„Wir bleiben zuhause“ setzte sich schnell als Ansage mit breiter Akzeptanz durch. Und so sehr ich diesen Kurs zur Eindämmung der steigenden Zahlen von Infektionen nachvollziehen konnte – der Slogan weckte in mir auch ein Unbehagen. Zu kurz gefasst erschien er mir als Antwort auf ein so hochkomplexes Geschehen, wie wir es im Frühjahr 2020 erlebten und nach und nach zu begreifen versuchten.
In meiner Vorstellung entstanden ambivalente Bilder eines sicheren Rückzugs, bei dem die Welt einfach draußen blieb und sich der Horizont auf die eigenen vier Wände verengte – begleitet vom Dauerrauschen digitaler Statements, Film- und Fotofluten.
Gleichzeitig merkte ich: Wenn ich die Haustür öffne und nach draußen gehe – zu Fuß, allein, in die Natur, durch stille Seitenstraßen – erfahre ich die Beziehung zur Welt anders als durch den Filter diverser digitaler Angebote im Wohnzimmer. Bei einer solchen Bewegung im Freien geht es um mehr als um das Bedürfnis nach Fitness oder um Abwechslung im eingeschränkten Tageslauf.
Schon nach wenigen Tagen wurde mir bewusst: Mit jedem Schritt verändert sich mein Nachdenken über die Situation bei uns und in anderen Teilen der Welt – einfach, weil mir in direkter sinnlicher Verbundenheit mit der Welt hier draußen die Verletzbarkeit wie die Schönheit des Lebendigen bewusster wird. Weil ich mich körperlich als Teil des Lebendigen anders spüre. Und weil ich mich in dieser Verbundenheit nicht länger abgeschirmt fühle von dem, was hier wie anderswo geschieht.
Es geht mich was an.
Viele Gedanken und Fragen aus der Zeit der Reisen und Begegnungen fanden nun Anschluss an das, was mir im Freien auf meinen täglichen Wegen zu Fuß in den Sinn, zu Ohren und in den Blick kam – und ließen sich nach und nach neu in Worte fassen.
„Vor der Haustür die Welt“ und „Briefe für die Zukunft“ lauten die Titel der Materialien, die in dieser Zeit entstanden sind. Nicht allein durch meine eigenen „Gedankengänge“, sondern zugleich durch den Austausch mit Menschen in anderen Teilen der Welt.
Denn zu den besonders kostbaren Erfahrungen dieser Zeit gehört für mich auch die solidarische Verbundenheit mit engagierten Frauen in Italien und Serbien, in Nicaragua, Afghanistan und Ghana.
Kennengelernt hatten wir uns in den zurückliegenden Jahren auf verschiedenen Wegen. Verbunden fühlen wir uns vor allem durch das gemeinsame Engagement für ökologische, soziale und kulturelle Fragen.
In diesem Frühjahr nun, gemeinsam betroffen von den Auswirkungen der Pandemie in allen Ländern der Welt, ermutigten wir einander mit Erfahrungen und Ideen: Ellen in Ghana zum Beispiel weiß, wie wenig selbstverständlich es ist, dass Menschen überall Zugang zu sauberem Wasser haben. Aber sie weiß auch, was sich ändern muss, damit die Wasserversorgung besser wird. Pearl, ebenfalls in Ghana, erzählt von Kindern und Jugendlichen in ländlichen Regionen, die ohne zuverlässige Strom- und Internetverbindung kaum Anschluss an digitale Lernangebote in Zeiten des Lockdowns finden können. Sie engagiert sich mit anderen, um dort durch Bücher die Bildungschancen zu verbessern. Und auch Daniela in Serbien hat viele gute Ideen, um mit den Kindern, die sonst täglich ihre Bibliothek besuchen, im Gespräch zu bleiben – durch tägliche Vorlesestunden und Chats via Facebook.
Das Nahe, wie ich es beim täglichen Gehen nun so intensiv wahrnehme und die Ferne, aus der mir die Frauen so viel von ihrem Leben mitteilen, haben den Monaten im Frühjahr eine besondere Tiefe und Weite geschenkt. Daraus schöpfe ich bis heute. Mit großer Dankbarkeit für das, was wir dabei auch weiterhin miteinander teilen können.
Inzwischen steht der gepackte Rucksack ab und zu wieder im Flur. Erste Seminare nach dem Lockdown haben bereits stattgefunden. Mit besonderer Umsicht. Noch sind die Reisewege eher kurz. Ich meide lange Fahrten in vollen Zügen. Vom Reisen per Flugzeug habe ich mich lange schon verabschiedet.
Die Gedankenreisen in verschiedene Himmelsrichtungen aber gehen weiter.
Wenn ich jetzt in Seminaren wieder anfange, mit Menschen über das Leben auf dieser Erde heute und in Zukunft nachzudenken, dann erzähle ich manchmal von der Nähe und von der Ferne:
Ich erzähle vom Wald, der gleich hinter meinem Haus beginnt und von Ellen, die sich in Ghana ebenfalls Gedanken um Holzverbrauch und Bäume macht.
Ich erzähle vom Meer vor meiner Haustür und vom Wasser, das anderswo ein so kostbares Gut für Gesundheit und Hygiene ist.
Ich erzähle von der Freude des Singens mit unseren Nachbarn draußen in den Gärten und von der Kraft der Musik für Kinder in Nicaragua.
Susanne Brandt arbeitet als Lektorin bei der Büchereizentrale Schleswig-Holstein. Sie schreibt seit über 30 Jahren Lieder, Lyrik, Geschichten und Praxisbücher. Ihre Passion: Den spannenden Verbindungen zwischen Kunst, Kultur und Naturerfahrungen auf der Spur zu bleiben. Sie ist dabei am liebsten zu Fuß unterwegs und lernt jeden Tag dazu – durch kleine und große Menschen aus aller Welt.
Mehr dazu erfährst du auch in ihrem Blog:
Weitere Informationen über Susannes Projekte kannst du hier finden:
http://www.climateproject.de/node/126
Diese Geschichte von Susanne Brandt ist Teil des Schreibwettbewerbs „Mut in der Krise“ und beruht auf einem persönlichen Erlebnis.
Genauere Informationen zum Wettbewerb findest du hier: Mut in der Krise.
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