Die Verlust-Angst
von Marny Münnich
Die Zutaten:
Zwei Menschen, ein Verlust und eine erstaunliche Erkenntnis
Wann ist ein Verlust wirklich negativ, wann ein Gewinn positiv? Diese Geschichte von Marny Münnich aus der Coronazeit macht nachdenklich – gut nachdenklich.
Wir danken Marny Münnich für Ihren Beitrag.
„Entschuldigen Sie“, sagte eine ältere Dame, deren Gesicht ich kaum erkennen konnte. Sie richtete ihren Blick nach unten, als habe sie etwas Wichtiges verloren. „Haben Sie zufällig meine Angst gesehen?“, fragte sie, ohne ihren Blick heben zu können. Sie suchte prüfend und mit einer in Besorgnis versteinerten Miene weiter den Boden nach ihr ab. Ich spürte förmlich ihre besorgte Nachdenklichkeit, in Erwartung des drohenden Verlustes.
Etwas verunsichert über die eher außergewöhnliche Situation auf meinem Nachhauseweg – und damit ist nicht die Tatsache gemeint, dass wir alle selbstverständlich Maske trugen, eine Gesetzmäßigkeit, die noch vor Weihnachten ein Gedanke frohen Scherzens gewesen wäre – antwortete ich unmittelbar. So gab ich der Situation einen Hauch von Normalität.
„Ihre Angst?“, fragte ich sie höflich und sah sie wohlwollend an. Das erste Mal sah sie mich wirklich an und zog mich mit ihrem Blick in einen wahrheitssuchenden Bann. Zu spät für Ausflüchte, wie „Nein, keine Zeit.“ „Meine Angst“, sagte sie, mit paradoxerweise etwas Angst in der Stimme, „ich glaube, ich habe sie verloren.“
Wir schauten nun beide auf die Pflastersteine, die von Kaugummimustern in Weiß und jeder möglichen Abstufung von Grau geziert wurden, als blicke man durch ein Kaleidoskop. „Nein, tut mir leid“, sagte ich und legte Trost in meine Stimme, weil ich merkte, dass sie etwas traurig war. Vermutlich, weil Verlust immer etwas Negatives bedeutete, unabhängig davon, ob es nun tatsächlich eine negative Folge nach sich zog oder auch nicht.
Denn – so schien es mir – dass der Mensch per se nicht umgänglich und gut gestimmt mit jenen Verlusten war, die er zu tragen hatte. Einfach aus dem Grund, dass es sich um einen Verlust handelte. Und dass es sich ebenso mit den Gewinnen verhielt. Dass einem Zugewinn immer etwas Gutes unterstellt wurde, was auch immer er nun beinhaltete.
Waren Wolken mit Regen ein Gewinn für die Schonung der viel zu geringen Wasserpegel. So wie die Sonne gleichsam ein Verlust von eben jenem ökologischen Gleichgewicht darstellte, wenn der Mensch nur gewillt war, den Fokus der Aufmerksamkeit so zu legen. Sven Plöger zum Dank, der einem so nicht direkt, sondern behutsam am Freitagabend erzählte, dass das Wetter pünktlich zum Wochenende – sagen wir – bescheiden ausfallen würde.
„Wo haben Sie sie denn das letzte Mal gesehen?“, fragte ich die Frau, die sich scheinbar langsam an den Gedanken gewöhnte, dass sie tatsächlich ihre Angst irgendwo verloren hatte.
„Ja“, sagte sie und fing mich erneut mit ihren leuchtend wachen Augen ein. Der Hut, den sie trug, betonte ihre Augen noch mehr, so dass ich mich nicht von anderen Details ihrer Erscheinung ablenken ließ. „Wissen Sie“, sagte sie, „ich lebe mit ihr nun schon seit 40 Jahren.“ Sie dachte nach. „Länger als mit irgendeinem Mann.“ Sie lächelte das erste Mal. Und ich lächelte ebenso das erste Mal mit Entspannung zurück. Verflogen waren die übertragene Nervosität und der unstrukturierte Aktionismus.
„Manchmal war sie ganz präsent in meinem Leben. Ich machte mir Gedanken über Gott und die Welt. Was wäre, wenn? Gedankenketten, die sich wie Spaghetti in meinem Kopf verhedderten. Kaum war die eine Sorge kurz davor zu Ende gedacht zu sein, erschien es mir, als spränge sie über zu einem neuen sorgenbereitenden Gedanken. Ängste, die in meinem Kopf Geschwindigkeit aufnahmen, wie auf einer Autobahn, auf der ich niemals die Ausfahrt zur Entspannung und Beruhigung nehmen konnte. Stattdessen verfranzte ich mich immer und immer mehr und kam gedanklich nie an meinem Ziel an. Ein Gedankenkreisel, der mich so verzweifeln ließ, dass ich dachte, die Sorgen würden mich verrückt machen. Und ja“, sagte sie, wobei sich Falten zwischen ihre Augenbrauen zogen, als würde sie damit ihre Worte vor der Aussprache prüfen, „heute Morgen dann, da wachte ich inmitten der Corona-Krise auf und dachte mir, dass mich kein einziger Angstgedanke jemals beruhigt hatte. Dass es eigentlich überhaupt keinen Sinn gemacht hatte, diesen Angstgedanken so viel Aufmerksamkeit zu schenken. Dass sie eigentlich nicht der Schutz waren, den sie mir zu verkaufen versuchten: Alles und jede Eventualität, jede Möglichkeit und jede Sorge durchdacht zu haben, um auf alles vorbereitet zu sein. Stattdessen hatten sie genau das Gegenteil bewirkt: Dass ich mit der Angst nicht am Leben teilnehmen konnte.“
Wiederum trat Stille ein. Diese nun verlieh meinem tristen Tag einen Hauch milder Nachdenklichkeit.
Wir hielten sie beide aus.
Die Nachdenklichkeit.
Und die Stille.
Und keiner von uns beiden beabsichtigte in diesem Moment, die Stille der Erkenntnis mit lauten, sinnlosen Worten zu verdrängen und sie damit zu verleugnen.
Wir waren in diesem Moment ganz nah beieinander. Stelle ich fest, wenn ich über diese Begegnung nachdenke, die keiner Berührung bedurfte, um berührt zu sein.
Weil auch ich sie kannte. Die Angst. Und insbesondere dann, wenn die ganze Welt ihren Grundton trug. Wie in der Corona-Krise, in dem die Angst das war, was die Menschen miteinander ausnahmslos teilten.
So stellte auch ich in dem Moment fest, dass die Angst nicht immer ein guter Begleiter war. Insbesondere dann nicht, wenn sie kein Ziel hatte, sondern nur wie ein schwerer Mantel auf einem lag.
Und so reichten wir uns gedanklich die Hände. Die unbekannte Frau mit ihren wachen Augen und ihrer Angst, die sie nicht mehr im Gepäck hatte. Corona sei Dank!
Eine Chance, unbrauchbare Ängste auszusortieren und sie vom Wesentlichen zu unterscheiden.
Diese Geschichte ist von
Marny Münnich
Diese Geschichte von Marny Münnich ist Teil des Schreibwettbewerbs „Mut in der Krise“ und beruht auf einem persönlichen Erlebnis.
Genauere Informationen zum Wettbewerb findest du hier: Mut in der Krise.
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