Osterfeuer

Von Redaktion

Mutmach-Geschichte

Osterfeuer

von Cristina de Ramirez 

Die Zutaten: Ein Feuer am Ostersonntag, viele Helfer und 44 Kuchen.

Vorwort der Herausgeber zur Geschichte

Es kann einem kaum etwas Schlimmeres passieren, als dass man auf seinem eigenen Hof von galoppierenden Büffeln aus dem Schlaf gerissen wird. Und noch mal mehr, wenn man kurze Zeit später herausfindet, dass das ein fataler Irrtum war. Aber dann kommen einem alle Nachbarn und Freunde zur Hilfe. Eine spannende Geschichte, bei der es im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod ging.

Wir danken Cristina de Ramirez für diesen Beitrag.

"Es ist doch erst April!"

Nach nur viereinhalb Stunden Schlaf wird sie wach, weil eine Büffelherde über ihren Hof zu galoppieren scheint. Am Ostersonntag? Verschlafen und ein bisschen orientierungslos setzt sie sich im Bett auf. Vor zwei Tagen hatte sie sich das Handgelenk gebrochen. Jobst war längst aufgestanden, um zu melken und die Tiere zu versorgen. Zum ersten Mal in zweiundreißig Jahren könnte sie guten Gewissens liegen bleiben und das warme Bett noch ein wenig auskosten. Apropos Wärme. Warum ist es plötzlich so heiß im Schlafzimmer?

Es ist doch erst April! Die Hitze wird schier unerträglich. Sie steht auf, um die Balkontür zu kippen. Es sind keine Büffel. Auch keine anderen Huftiere. Es sind Flammen. Meterhoch schlagen sie aus dem alten Stall. 

Schockstarre. 

Tausend Gedanken rasen simultan durch ihren Kopf. Das kann doch nicht passieren! Dann die Schreie. Jobst brüllt Anweisungen über den Hof. Fiete treibt die rotbraunen Ochsen. Sie sieht Jule im brennenden Stall verschwinden. Rafe reisst die Tür zum Schlafzimmer auf: „Mama! Der Stall brennt. Du musst kommen!“ Da erst fällt die Versteinerung von ihr ab. In der Ferne hört sie Sirenen heulen. Die Autos! Sie muss die Autos vom Hof fahren, bevor die Feuerwehr eintrifft. In Windeseile hastet sie die knarzende Wendeltreppe hinunter und bleibt verwirrt vor dem Schlüsselbrett hinter der Tür stehen. Panisch greift sie nach allen Schlüsseln gleichzeitig.

Dann tritt Reica wie aus dem Nichts neben sie. „Komm, ich helf dir. Schnell, die Feuerwehr kommt gleich!“ Ihre Schwiegertochter ist auch da. Sofort schöpft sie Mut. Zusammen würden sie es schaffen. Wie durch ein Wunder stehen nur Minuten später alle Autos auf dem Acker. Dann sieht sie Philemon, ihren Ältesten. Geistesgegenwärtig wirft er schwere Leitzordner aus dem Bürofenster. Adrenalin gibt ihr Kraft. Sie vergisst ihr kaputtes Handgelenk. Zusammen mit Reica stapelt sie die Ordner und Papiere in Wäschekörbe. Die gesamte Buchführung ist in diesem Büro. Die Flammen ragen aus den Fenstern. Schwarzer Rauch. Dann ist Philemon eingeschlossen. Bevor Reica etwas mitbekommt, wird sie mit dem letzten Wäschekorb voller Hefter in den Keller geschickt.

"Spring!"

„Spring!“, will sie Philemon gerade mit mütterlicher Autorität zubrüllen. Da fährt Fiete mit dem Frontlader vor das Bürofenster und Philemon springt hinein. Dann stehen sie im Garten vor dem Stall und schauen nur noch zu. 

Hilflos. 

In nur wenigen Minuten ist weg, was so viele Jahre Bestand hatte. Für einen kurzen Moment nimmt sie nichts von dem Chaos um sie herum wahr. Sie sieht nur die Flammen, und wie schnell alles unter der Hitze zusammenschmilzt. Dann erwacht sie. Unzählige Feuerwehrmänner ziehen lange Schläuche kreuz und quer über den Hof. Die haben sicher Durst. Sie tut, was sie immer tut: alle versorgen. Fietes Freundin Cora und ihre Eltern sind zum Helfen gekommen. Gemeinsam kochen sie Kaffee und holen alles, was die Speisekammer hergibt, aus dem Haus. Backen Brot und Brezeln auf und bestreichen sie mit Butter, alle Osterhasen und Eier gehen an die Feuerwehr … ganz ohne Sucherei. Von irgendwoher steht auf einmal ein Anhänger mit Getränken im Hof. Ein Geschenk des Himmels. Bauern von anderen Höfen kommen mit ihren Viehanhängern und holen die trächtigen Kühe und die Ochsen, die Kälber, die Ponys, die Esel, die Ziegen. Die Hunde bellen noch immer aufgeregt im Keller. Überall dicker Rauch. Schwarz, grau und weiß. Nachbarn packen mit an. Jeder scheint zu wissen, was zu tun ist. Nur sie fühlt sich, wie im Nebel. Sie rennt wieder ins Haus, um noch mehr Kaffee und Rührkuchen, Joghurts und Sprudelflaschen nach draußen zu tragen. 

Gegen Abend haben sie wieder Strom. Die Kühe können zum Melken kommen. Das Feuer ist gelöscht. Einige Männer sind noch da, zur Wache. Aufgekratzt und doch erschöpft setzen sie sich um den großen ovalen Familientisch: Jobst, Fiete und Cora, Reica und Philemon, Jule, Rafe. Ihre Töchter Anka und Lioba sind auch gekommen. Sie alle zu sehen, tröstet sie. Dass niemand verletzt und kein Tier verbrannt ist, noch mehr. Jesaja dreiunvierzig Vers zwei fällt ihnen ein: Und so du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. Denn ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige in Israel, dein Heiland. Heute waren sie behütet und bewahrt worden. Trotz allem Unheil.

Philemon hatte die Biogasanlage vom Stromnetz getrennt. Wäre sie explodiert … Erschrocken legt sie ihre Hand auf den Mund und schließt die Augen. Diesen Gedanken will sie nicht zu Ende denken, sich nichts dazu vorstellen.

Jobst sagt: „Und der Gastank. Für die Ottomotoren!“

Alle am Tisch gucken sich mit weit aufgerissenen Augen an. Niemand hat an den Gastank gedacht. Was, wenn Funken geflogen wären? Statt zu antworten, schlägt Rafe die abgewetzte Bibel auf und liest: Ihr wolltet mir Böses tun, aber Gott hat Gutes daraus entstehen lassen. Sie greift über den Tisch, zieht das dicke Buch zu sich. Steht so etwas tatsächlich in der Schrift?

So viele Anrufer hatten ihnen heute genau das gesagt: Gott wird es für euch zum Guten wenden.

Zum einen ängstlich und doch irgendwie hoffnungsvoll, klammert sie sich an diesen Zuspruch. Die Umstände versuchen pausenlos, ihr andere Dinge zuzuflüstern. Dinge wie: Ihr müsst den Hof aufgeben. Was da an Kosten auf euch zukommt! Ihr steht vor dem Aus! Der Hof ist schonmal abgebrannt. Er ist sicher verflucht. Ihr solltet euch verkleinern. Ihr habt so oder so keine Zukunft. Ärgerlich schüttelt sie den Kopf. Diesen Gedanken will sie keinen Raum geben. Gott würde es für sie zum Guten wenden. Denen die Gott lieben, dienen alle Dinge zum Besten. Das stand auch in der Schrift, erinnert sie sich.

Und eigentlich ist gerade Pandemie

Und eigentlich ist ja grad Pandemie. Corona. Kein Mensch hat heute hier an das Virus gedacht. Und doch. Wegen Corona war jedermann zu Hause. Keine Reisen und Familienfeiern. Über hundert Feuerwehrmänner waren so im Einsatz. Konnten ihren Hof schützen, vor Schlimmerem. Konnten verhindern, dass die Flammen auf das Haus übersprangen. Dank Corona konnten sie heute Nacht in ihren Betten schlafen – auch wenn es draußen roch, wie nach einem riesen BBQ. Nach schwer verkokelten Würstchen und geräuchertem Holz.

 

„Ich hab soo gut geschlafen“, sagt sie zu Jobst, als sie ihm am Frühstückstisch den Kaffee hinstellt. „Ich auch.“ Eine Nacht drüber schlafen tut gut. Erholt geht sie in ihren Garten, um ein paar Kräuter für den Quark zu schneiden. Die Autos fahren extra langsam an ihrem Hof vorbei. Drehen um und fahren nochmal wie in Zeitlupe vorbei. Heruntergekurbelte Scheiben und das Smartphone schon bereit. Ein Auto fährt in den Hof. Unverschämt, denkt sie. Da steigt ihre Freundin aus. „Ich bring euch Kuchen!“, ruft sie fröhlich. Aus dem Kofferraum holt und holt und holt sie Kuchen. Längliche, Eckige und Runde, Gugelhupf und Hefezopf. Manche mit Obst, andere mit Schokoguss. „Ich hol die Platten nächste Woche, wenn ich euch wieder welchen bringe!“ Und schon ist sie weg.

Vierundvierzig Kuchen später

Es ist Ende Juni. Vierundvierzig Kuchen später blickt sie auf die zwei Monate zurück und staunt. Staunt über die Hilfe, die Menschlichkeit und Herzensgüte inmitten der Krise, über die vielen Briefe, Anrufe und Besucher. Im Zerbruch war sie nicht allein. Sie schaut aus dem Wohnzimmerfenster. Sie sieht den Baggern zu, die die Baugrube für den neuen Stall ausheben. Der Brand ist schuld. Sie dürfen bauen. Schneller als gedacht. Während das Alte noch schwarzverkohlt und baufällig an vergangene Zeiten erinnert, sprosst bereits etwas Neues.

Ostersonntag, 12.4.2020 - Veränderte unser Leben - Nachhaltig - Vertrauen wuchs.
Cristina de Ramirez

Wer hat hier geschrieben?

Cristina de Ramirez hat hier eine wahre Geschichte aufgeschrieben, die Mut macht, dass inmitten einer Krise Hilfe da ist, wenn sie gebraucht wird  und Menschlichkeit und Herzensgüte wachsen.

Diese Geschichte von Cristina de Ramirez ist Teil des Schreibwettbewerbs „Mut in der Krise“.

Sie beruht auf einem persönlichen Erlebnis, welches sie hier beschrieben hat.

Genauere Informationen zum Wettbewerb findest du hier: Mut in der Krise.