Noch einen Schritt

Von Redaktion

Mutmach-Geschichte

Noch einen Schritt

von Asal Rahmany

Die Zutaten:

Eine Aktivistin, Flucht und der Atem eines Regimes.

Vorwort der Herausgeber zur Geschichte

Was für eine Geschichte, was für ein Mutmacher, was für ein Talent! Asal Rahmany, die Autorin dieser Geschichte, ist 15 Jahre alt. Sie beschreibt hier nicht ihre persönliche Geschichte, sondern die von tausenden Flüchtlingen auf der ganzen Welt. Sie schreibt von Gewalttaten, Ängsten, Abschieden und Tränen aber auch von Hoffnung und Glück.

Wir waren sehr berührt. Nicht nur von der Geschichte an sich, sondern von Asals Art zu schreiben. Unmerklich zieht jeder Satz den Leser mehr in das Geschehen – so sehr, dass man das Beschriebene fast selbst spürt, riecht, hört. Asals Traum ist es, einmal bedeutende Bücher zu schreiben und wir sind uns sicher, sie ist auf dem besten Weg dorthin.

Herzlichen Dank an Asal Rahmany für diese bedeutende Geschichte.

1

Hass, hat sich bisher in meinem Leben noch nie so unwiderstehlich gut angefühlt wie jetzt. Ja, ich hasse sie alle, verabscheue jeden Einzelnen von ihnen, allein ihre Existenz scheint wie die Konkurrenz des Teufels. Ich möchte, dass sie hoffnungslos in einem Ozean aus meinen Gefühlen verloren gehen und dass sie in den Wellen, aus bitterem Gift ertrinken. Was haben wir bloß so falsch gemacht, womit haben wir das verdient?

Ich lege meinen Kopf auf die Knie, die ich fest an mich gezogen habe und blicke, zum hundertzwanzigsten Mal seit sie mich hier reingeworfen haben, um mich herum. Wortwörtlich reingeworfen! In diese Zelle aus vier Metallwänden. Ohne irgendeinen Stuhl oder wenigstens einer Decke, ohne Wasser, ohne Bücher, ohne natürliches Licht, ohne Hoffnung. Mein einziger Begleiter, mit dem ich in den letzten Tagen das „ehrenhafte“ Vergnügen hatte, ‘ ist Staub überall. Auf meiner dreckigen Kleidung, auf meinen Fingern und höchstwahrscheinlich auf meinem Gesicht. Staubkörner in der Luft, die langsam zu Boden fallen und dort im Meer aus Staub versinken. So wie ich.

Seit drei Tagen sitze ich hier seelenverloren. 73,5 Stunden in einer Ecke zusammengekauert. 4.410 Minuten wie ein Wildtier eingesperrt. 264.600 Sekunden, in denen ich alles zähle, was mir in den Sinn kommt.

Ich zähle die Augenblicke, in denen ich mich im Raum umschaue, zähle die Male, in denen ich höre wie sie neue, unschuldige Menschen einsperren, zähle die Schreie  voll Wut und Enttäuschung, die langsam leiser werden bis denen die Stimmen gänzlich versagen – müde und machtlos.

Zahlen und ich. Alles was im Moment existiert, alles was übriggeblieben ist, sind Zahlen und ich. Zahlen, eine alte, komplexe Sprache des Universums.

Ich lehne meinen Kopf zurück an die Wand, schließe meine Augen, schlucke diesen ewigen Frustrationsspeichel hinunter und denke mir, es ist alles meine Schuld. Meine Schuld, dass ich hier festsitze, meine Schuld, dass ich mich nicht zurückgehalten habe, meine Schuld, dass jeden Tag ein Stück Hoffnung in mir stirbt. Wie eine schwache Rose, die Tag für Tag ihre Blätter verliert, verliere auch ich meine Kampfbereitschaft, meinen Stolz.

Jede Nacht höre ich qualvolle, erschütternde Schreie. Meine eigenen Schreie. Panikattacken, die mich besuchen und denen ich meine Gastfreundlichkeit ohne Preis anbiete.

„Warum musst du immer mitkämpfen?“, hat mich Maman so oft gefragt.

„Ja, warum Golshifteh, warum lebst du dein Leben nicht in Frieden?“

„Wie denn, wenn um mich herum Krieg herrscht?“

Dann höre ich sie: gewaltige Schritte. Die Wachen kommen. So früh? Diese schmutzigen Verräter, sie öffnen die Tür. Ich weiß nicht, ob ich Sehnsucht oder Angst spüren soll.

2

Der Geruch von gekochtem Reis mit Safran, das Klickern des Teelöffels, der kleine Zuckerwürfel im heißen Schwarztee umrührt, ein Boden aus kaltem Marmor, bedeckt mit handgemachtem, warmem Perserteppich: Ich bin wieder Zuhause.

Meine Familie hat ihr gutes und weniges Geld in einen Anwalt investiert, um mich zu befreien. Zwar lange noch nicht gut genug, um gegen das iranische Regime zu siegen, aber für mich hat es gereicht.

“Kind, schau dich an, du bist nur mehr Haut und Knochen! Ganze 26 Jahre alt und noch immer nicht reif genug, um dich rauszuhalten! Schau wo du uns hingeführt hast, direkt in das schwarze Loch, ach Gutgütiger!“, redet Maman auf mich ein und schaut nach oben, als gäbe es dort mehr Verständnis und Vernunft als in meinem Kopf.

Falten haben sich auf ihrer Stirn gebildet, dunkle Schatten unter ihren nussbraunen Augen, ihre Lippen röter als sonst, als hätte sie jede Sekunde an ihnen gekaut. Ich hasse mich selbst dafür, dass sie so leidet. Trotzdem würde ich mein Verbrechen wiederholen. Mit dem wenigen, kranken Stolz, den ich noch übrig habe, werde ich nicht akzeptieren, dass mein Verbrechen als strafbar gilt. Nicht solange ich Golshifteh heiße, nicht solange ich noch atme, niemals!

Ich habe nichts gestohlen. Ich habe niemanden ermordet. Ich bin nirgendwo eingebrochen und habe keine illegalen Drogen genommen oder verkauft. Nein, meine Taten waren viel schlimmer als all das zusammen!

Ich habe demonstriert, ich stand meinem Volk beiseite und habe für Menschenrechte demonstriert, für meine eigenen Rechte, für kostbaren Frieden in meinem Land.

„Haben sie dich geschlagen?“, flüstert Maman in die Stille, ihre Stimme schwächer als sonst. Unwillkürlich zucke ich kurz zusammen, unangenehme Hitze brennt sich einen Weg in meinen ganzen Körper. Aber weshalb ist mir immer noch so eiskalt? Wie ich dieses Gefühl hasse, wenn sich mein Magen verdreht, wie sich etwas in meiner Brust zusammenzieht, wie mich das Kribbeln in den Beinen fluchtartig schwächt.

Ich atme. Ich wünschte sie hätten mich nur geschlagen, möchte ich antworten. Ich wünschte sie wären nicht so nah an mich heran gekommen, möchte ich ihr erklären. Aber nichts kommt raus.

Frauen werden hier mehr verachtet als die individuelle Freiheit.

Jetzt kann ich es nicht mehr halten, die Tränen, sie kommen automatisch, sie holen mich ein und ich lasse es zu. Ich weine und gebe so markerschütternde Schreie von mir, dass ich selbst von diesen grässlichen Geräuschen überrascht bin. Maman zieht mich fest an sich heran, als fürchte sie, ich würde gleich vor ihren Augen wie Glasscherben zerspringen.

Ich bin schon lange zerbrochen.

„Du musst weg von hier, es ist nicht mehr sicher für dich. Du musst auswandern.“, wispert sie mir ins Ohr und streicht eine Haarsträhne von meinem Gesicht.

Auswandern. Weit weg von hier, von dieser Ungerechtigkeit und Unsicherheit. Weit weg von meinem Heimatland. So weit weg. Auswandern.

Letzte Umarmungen, letzte Worte. Ein letztes Mal den mir so bekannten Duft meiner Eltern einsaugen und mich verabschieden. Meine Familie zurücklassen, meine Leute zurücklassen, meine Heimat verlassen.

3

Ich dachte, ich hätte Schmerz erlebt. Ich dachte, ich wüsste was Schmerz ist. Aber geliebte Menschen zurück zu lassen ist Schmerz auf einem höheren Level. Etwas das ich überleben werde, aber das sich nicht heilen lässt. Etwas, das sich so tief in mir eingeritzt und eingebohrt hat, dass es kein Zurück mehr gibt. So wie für mich. Es gibt kein Zurück mehr für mich, weil ich schon mitten auf der Fahrt bin, versteckt in einem Lastwagen hinter all dem Gemüse und Obst und Kartons, gefangen in meinen endlosen Gedanken.

Wie es scheint, bin ich nicht die Einzige auf dieser Reise. Eine afghanische Familie mit drei Kindern sitzt gegenüber in einer Ecke, ihre Gesichter dunkel vor Sorge und Angst. Sie wollen nach Europa habe ich mitbekommen. Ein äußerst tödlicher Plan, denn sie müssen mit alten, kleinen Booten über das Mittelmeer die Grenze überschreiten.

„Gott sei mit uns. Gott sei mit uns.“, flüstert die Mutter immer und immer wieder. Ein kleiner Junge schläft auf ihrem Schoß und sie streicht ihm sanft über die Wange. Ihre anderen beiden Kinder, sind zwei Mädchen, die haargenau identisch aussehen. Sie liegen dicht nebeneinander, ihre Augen friedlich geschlossen. Ihre Gesichter so unschuldig, so jung.  

Seufzend wende ich den Blick ab von der Familie und verspüre die Sehnsucht auf frische kühle Luft. Wir fahren erst seit einer halben Stunde, aber dieser Lastwagen ist so unangenehm stickig und geladen mit allen möglichen Paketen. Ich frage mich wie lange wir noch fahren müssen, um die Türkei zu erreichen, unsere erste Station.

Mein Endziel jedoch ist nicht Europa, sondern Kanada. Wenn ich dort eine Chance bekomme, werde ich auch die Möglichkeit haben nach Amerika zu ziehen. Wenn Kanada mich nicht akzeptiert, wird alles umsonst gewesen sein, all das Geld, das meine Eltern und ich in die falschen Papiere investiert haben, all das Geld für die Schmuggler.  Wenn ich abgewiesen werde, wird das iranische Regime mich wieder unter Haft nehmen, jahrelange Haft.

Allein der Gedanke macht mich wahnsinnig, weil ich im Grunde nur für mein Land protestiert habe. Aber ich bin eine gefährliche Waffe gegen das Regime, weil ich eine Aktivistin bin und somit viele Unterstützer habe. Sogar auf meinen Sozialen Medien habe ich verblüffende 1072 Follower.

4

Ich habe mich schon so viele Monate in Bereichen wie Politik und Menschenrechte engagiert. Irgendwann habe ich angefangen mich Organisationen anzuschließen, die für Freiheit und Gerechtigkeit kämpften. Ich habe Demonstrationen geplant und gestartet. Ich wurde verabscheut und gehasst, ich wurde verehrt und berühmt, aber am meisten wurde ich von dem iranischen Regime gefürchtet. Damit ist es nun vorbei. Ich bin verloren in einer Dunkelheit, aus der ich nicht mehr hinausfinde. So einsam, so schwach.   

Mein Kopf stößt an eine Box neben mir und ich brauche nicht lang, um zu bemerken, dass unser Wagen nicht mehr fährt. Die Mutter wirft mir einen Blick zu, Schrecken in ihren Augen.

Die Tür wird zur Seite geworfen und knallt gegen die Seitenwand des LKW. Wir schrecken zusammen, frische, kalte Nachtluft weht herein. Ein Mann mit einem Messer in der Hand schreit uns an: “Handy und Geldbörse mir geben. Jetzt!“

Die Mutter neben mir folgt seiner Anweisung ohne zu zögern und ich mache dasselbe. Wir haben schließlich keine andere Wahl.

„Und jetzt raus! Den Rest ihr zu Fuß gehen. Na los, raus mit euch!“, brüllt der Schmuggler und droht uns mit seinem Messer.

Die Mutter nimmt ihren kleinen Jungen in den Arm, während sie mit den Zwillingen sofort aus dem Lastwagen hinaussteigt. Ihre Kinder fangen an zu weinen und sie zittern. Ich weiche nicht von meiner Stelle. „Die Abmachung war, dass sie uns über die Grenze ins Nachbarland bringen. Wir sind nicht mal ansatzweise dort!“, erkläre ich ihm. Trotz des Versuchs meine Stimme ruhig zu halten, zittert sie.

“Euch fehlt nicht mehr viel. Ihr müsst diesen Weg geradeaus gehen. Richtung Norden“, gibt er zurück und weist nach draußen. Ich gebe mich geschlagen und renne hinaus.

Der Schmuggler springt in die Fahrerkabine und lässt uns zurück. Ohne Geld und Handy, einen langen Weg vor uns. Ein wenig Geld habe ich in meiner Unterhose versteckt, zur Sicherheit. Ich weiß zwar nicht, ob ich die kommenden Schwierigkeiten überleben werde, aber ohne es zu versuchen werde ich nicht abkratzen!

Ich nehme den kleinen Jungen in meinen Arm und drücke die Hand einer Zwillingsschwester fest in meine und nicke ihrer Mutter zu. Wenn wir schon beide so einsam in dieser Dunkelheit feststecken, dann suchen wir wenigstens gemeinsam nach Licht.  

Wir legen Kilometer für Kilometer zurück, Stunde für Stunde gehen wir, ab und zu legen wir kurze Pausen ein, aber unsere Angst und die Hoffnung halten uns am Laufen. Ich trage den Jungen jetzt schon stundenlang und meine Arme fühlen sich so an, als wären tausend Jungen gleichzeitig auf ihnen. Aber ich bringe es einfach nicht über mein Herz, den Jungen loszulassen. Er ist der jüngste von uns, nur drei Jahre alt. Die beiden Zwillinge sind sieben Jahre alt und auch sie verdienen besseres als diese Situation. Verflucht seien diese Politiker, die nicht regieren können.

Wir laufen und gehen und laufen, unsere Kleidung dreckig, unsere Beine nass, weil wir schon mehrere Flüsse überqueren mussten. Jeder von uns hungrig, nicht nur nach Essen, sondern nach Wärme, Sicherheit, ein wenig Stabilität in unserem Leben. Ganze zweiundeinhalb Tage marschieren wir schon in dieselbe Richtung auf dem Weg. Unsere Körper sind müde und kraftlos. Und so oft wir auch geweint, geschrien und geschimpft haben, so oft wir auch alles aufgeben wollten, sind wir einen Schritt weiter gegangen. Schritt für Schritt, bis es zehn waren, bald 1000, irgendwann – selbst für mich – unzählig viele Schritte. Immer noch einen Schritt weiter.

5

Trotz all dem sind wir angekommen. Wir haben die Grenze überschritten und unsere erste Station erreicht. Und nun sind wir in Ankara. Mit dem restlichen Geld habe ich für ein Taxi gezahlt, um uns zur Stadt zu fahren. Wir haben es geschafft.

Jetzt werden sich unsere Wege trennen. Ich umarme die Kinder ein letztes Mal und halte die Hand ihrer Mutter fest in meiner. Danke, sagen ihre müden Augen und ich nicke ihr nur zu. Schon wieder ein Abschied, aber diesmal fällt es mir nicht so schwer. “Gott sei mit euch.“, flüstere ich ihren Lieblingssatz, bevor ich ihre Hand loslasse. Zum aller ersten Mal, seit unserer Begegnung lächelt sie mich an; ein schwaches, hoffnungsvolles Lächeln. Eines, das dich innerlich umarmt. Damit trennen sich unsere Wege und ich spüre trotz meiner Erschöpfung, etwas, dass ich schon seit so langer Zeit nicht mehr fühlte:

Erleichterung!

Hoffnungsfunken, die meine nächsten Schritte tragen, Hoffnungsfunken, die Teile meiner gebrochenen Seele finden und wieder zusammensetzen, fester und stärker als je zuvor. Ich habe überlebt!

Ich habe demonstriert, protestiert um eine jahrelange, strenge Diktatur zu verändern, ich wurde dafür verhaftet, geschlagen und gequält, aber ich bin aufgestanden. Risiko, nach Risiko. Mein ganzes Leben lang bin ich gelaufen und laufe noch immer, habe nie damit aufgehört.  Doch dieses Mal habe ich so viel innere Kraft und Weisheit, dieses Mal ist es anders.

Dieses Mal laufe ich in die Freiheit.

So oft hätte uns die Grenzpolizei sehen können, einsperren können, aber nichts davon ist passiert. Jemand von uns hätte sterben können vor Angst und Müdigkeit. Aber nichts davon ist passiert. Es ist ein Wunder. Es ist Glück, dass sich inmitten dieses Chaos‘ alles zum Guten gewendet hat und uns in seine Bahn zog. Es ist Glück. Ich atme und zum ersten Mal seit langer Zeit, nehme ich es bewusst wahr und liebe es.

 

Ich war und bin noch immer eine Aktivistin. Sobald ich Kanada erreiche, werde ich es verbreiten, #freeiran, so oft ich kann und muss. Bis Worte wahr werden.

Ich gehe einfach immer nur einen Schritt weiter,
denn aus einem werden zwei und aus zwei werden tausend,
bald unzählig viele.

Wer hat hier geschrieben?

Asal ist 15 Jahre alt und im Iran geboren. Sie lebt seit 2012 in Österreich und besucht dort ein Gymnasium.

Sie möchte – auch mit ihren Texten – zeigen, dass Menschen anderer Herkunft ebenfalls erfolgreich sein können.

Sie arbeitet hart an ihrem Schreibstil und der deutschsprachigen Grammatik, damit sie schon bald bedeutungsvolle Bücher veröffentlichen kann – ihr größter Traum!

Asal erstellt gerade ihre eigene Homepage. Sobald diese fertig ist, werden wir den Link hier einbinden.

Asal

Diese Geschichte von Asal Rahmany ist Teil des Schreibwettbewerbs „Mut in der Krise“ und beruht auf einem persönlichen Erlebnis.

Genauere Informationen zum Wettbewerb findest du hier: Mut in der Krise.