Luxusgüter der Corona-Zeit

Von Redaktion

Mutmach-Geschichte

Luxusgüter der Corona-Zeit

von Ingrid Weißbach

Die Zutaten:

Reiseverbot, Lockdown und eine Personenwaage

Vorwort der Herausgeber zur Geschichte

Dieser humorvolle Erfahrungsbericht hat uns einige Male zum Schmunzeln gebracht. Was macht ein nach rechts wandernder Zeiger einer Personanwaage mit einem, wenn man durch Corona zur Untätigkeit verdonnert wird? Keine Angst es geht gut aus und ist ein richtiger Mutmacher.

Wir danken Ingrid Weißbach für Ihren Beitrag.

Die Luxusgüter der Corona-Zeit

Was macht eine Reiseschriftstellerin in der Corona-Zeit? – Sie bleibt zu Hause. Was macht sie, wenn sie zum Thema Kulinarik schreibt? – Sie geht zum Kühlschrank.

Beides zusammen machte den Schritt auf die Personenwaage fatal. Der Zeiger kroch stetig nach rechts; in Richtung der dreistelligen Zahl.

Ein Ausweg war der Badezimmermarathon. Dazu sollte man Spülmittel auf dem Boden verteilen, sich an der Heizung festhalten und im Schritttempo auf den Fliesen auf der Stelle laufen. Ich glaubte dem Italiener, der das erfunden hatte, aufs Wort. Doch für mich war das nichts.

Das Einkaufen einmal am Tag war gespenstisch. Begegnete ich Menschen auf der Straße, sahen sie zu Boden. Als hätten sie etwas verbrochen.

Spazierengehen war erlaubt. Doch wo sollte ich hin?

Normalerweise war ich auf den Reisen in der Schweiz genug unterwegs. Ich ging Berge hinauf, an Seen entlang oder durch Wälder auf dem Weg zum Interview. Ich sah in die Tiefe der Schluchten und bis zur Höhe der Gletscher. Hier in Berlin schlüpfte ich in die Wohnung, ruhte mich aus, ging einkaufen, ins Kino oder ins Theater. Und fuhr wieder los.

Zurzeit aber konnte ich nirgendwohin. Und alles war dicht.

Früher hatte ich es mit einem Spaziergang im Steglitzer Stadtpark versucht.

Die Lärchen dort besaßen feine Nadeln. Ihre Stämme rankten sich grazil um sich selbst. Das Laub der Linden war klebrig und wenn sie blühten, roch es süßlich. Die Kiefer reckte sich hoch hinaus. Es gab Wacholder, Eiben und Wiesen. Und kleine Brücken führten über Rinnsale zum Kanal ins brandenburgische Land.

Doch das Spazierengehen war mir verleidet: Wer langsam durch den Park ging, hatte einen Hund. Wer keinen Hund hatte, joggte. Wer nicht joggte, fuhr mit dem Rad. Wer nicht mit dem Rad fuhr, walkte. Wer nicht walkte, hatte ein Kind an der Hand. Wer kein Kind an der Hand hatte, schob einen Kinderwagen. Oder einen Rollstuhl. Oder telefonierte. Oder alles gleichzeitig.

Ging ich langsam den Weg entlang, hatte ich das Gefühl etwas falsch zu machen.

So war der Park für mich jetzt keine Option.

Das Fahrrad, schoss es mir durch den Kopf!

Ich fand es im Keller. Und nein: Es war nicht verrostet und klapprig. Ich hatte mir immer wieder vorgenommen, hier in Berlin zu radeln und im letzten Jahr das Rad überholen lassen. So war es verkehrstauglich. Aber war ich das auch?

Ich spürte jedes Kilo. Bei der Anhöhe vor dem Haus schnaufte ich. Das Vorderrad schlingerte, weil ich nicht genug trat. In meinen Beinen zerrte es. Beschämt stieg ab und stellte das Rad zurück. Zog es am nächsten Tag wieder hervor. Stieg beim kleinsten Muskelschmerz ab und schob. Umklammerte den Lenker. Stieg auf. Es dauerte. Es schmerzte.

Eines Tages schaffte ich es bis zur Hauptstraße, ohne abzusteigen. Die Straße führte dennoch stetig aufwärts. Ich spürte jeden Muskel im Oberschenkel, Gesäß und in den Waden. Die zwei Treppen hinauf zur Wohnung zog ich mich mehr am Geländer empor, als dass ich sie stieg. Danach ging ich in die heiße Wanne. Zum Entspannungsbad. Tag für Tag.

Doch irgendwann hatte ich es geschafft: Ich trat ins Pedal und nichts schmerzte. Ich schaltete einen Gang hoch. Meine Beine bewegten sich wie von allein. Mein Po saß fest im Sattel. Ich fuhr fünf Kilometer an diesem Tag. Immer geradeaus. Anhöhen und Berge sah ich nicht mehr.

Ich landete im Grunewald

Es war Frühling. Das Laub an den Ästen der Bäume war frisch. Und ich sauste glücklich durch den Wald. Mit Joggern, Hundehaltern, Radlern und Spaziergängern. Ging in den kalten See baden. Saß nachts beim Schein des Handys auf der Bank am Schlachtensee und sah zum Vollmond hinauf. Mit dem Fuchs neben mir, der die Essensreste frech aus dem Papierkorb stahl.

Fuhr mit dem Rad zu Ostern nach Potsdam. Mit der S-Bahn zurück. Und staunte, was die Corona-Zeit bewirkte in mir.

Anderntags hatte ich Muskelkater. Ich entschloss mich zu einer kleinen Tour. Augen zu und durch, dachte ich, dann muss es eben der Stadtpark sein. Widerwillig stieg ich aufs Rad.

Dann staunte ich nicht schlecht. Corona hatte die Menschen im Steglitzer Park verwandelt. Auch die hatten Zeit. Gleich vorn auf der Wiese, spielte ein Elternpaar abwechseln mit dem Sohn Federball. Ein Mädchen ließ einen Kreisel auf dem Pflaster tanzen.

Zwei Jungen schrieben mit bunter Kreide auf den Asphalt: „Oma und Opa, wir vermissen euch!“. Eine türkische Familie machte in gebührlichem Abstand Gymnastik. Vier Teenager saßen im weiten Kreis auf der Wiese und hörten Musik. Ein Mann hatte sein Fahrrad an einen Baum gelehnt und saß mit einem Buch in der Hand am Ufer.

Eine dicke Frau joggte keuchend am Kanal entlang. Zwei andere walkten mit Stöcken. Und die Menschen lächelten jetzt wieder.

Einmal hatte ich gelesen:

Die Luxusgüter der Neuzeit sind Zeit, Ruhe und Raum.

Die besaßen jetzt alle; im Überfluss.

Eins kam für mich noch hinzu: Bewegung an frischer Luft!

Denn das hatte ich in der Corona-Zeit gelernt: Nichts bewegt sich, solange man sich nicht selbst bewegt. Und auf einmal bewegt sich alles. Auch der Zeiger auf der Personenwaage: Diesmal kroch er in die andere Richtung; stetig nach links.

Wer hat hier geschrieben?

Ingrid Weissbach, in Thüringen geboren lebt sie heute in Berlin und im Tessin. Sie studierte Mathematik, Physik, Psychoenergetik und am Literaturinstitut Leipzig.

Sie arbeitet als freie Schriftstellerin und Therapeutin, hat einen Band mit Kurzgeschichten, Gedichte und Geschichten in Anthologien und mehrere Sachbücher veröffentlicht.

Portrait von Ingrid

Diese Geschichte von Ingrid Weißbach ist Teil des Schreibwettbewerbs „Mut in der Krise“ und beruht auf einem persönlichen Erlebnis.

Genauere Informationen zum Wettbewerb findest du hier: Mut in der Krise.