Mutmach-Geschichte
Ein Fuß vor den anderen
von S. M. Syrch
Die Zutaten:
Überhebliche Ärzte, ein kleines Mädchen und unbändiger Wille.
Vorwort der Herausgeber zur Geschichte
Dieser bewegende Tatsachenbericht hat uns sehr berührt. Welche Stärke ein junges Mädchen schon früh entwickeln kann, mit welcher Willenskraft es sich ins Leben kämpft und heute als erfolgreiche Frau in Österreich lebt. Chapeau!
Wir danken S. M. Syrch für Ihren Beitrag.
Noch keine Zwölf
Ich war noch keine zwölf Jahre alt und dennoch erwachsener und selbständiger als Gleichaltrige.
Das letzte Zimmer am Ende des Ganges war seit geraumer Zeit mein Aufenthaltsort. Die grün lackierte Tür und die grüne Vertäfelung in Höhe der Kopfteile der Betten, waren die einzigen Farbtupfer im sonst kahlen Zimmer. Ein Lichtblick war die atemberaubende Aussicht, die für einige Zeit das Leid und die Schmerzen vergessen ließen.
In einiger Entfernung blitzte der gläserne Kamin der Müllverbrennungsanlage im Sonnenlicht und blendete mich beim Betrachten. Lange blickte ich aus dem Fenster und fixierte das architektonische Kunstwerk. Die goldglänzende Kugel, welche hell strahlte und mir Zuversicht und Glaube vermittelte und die schwarz-weiße Fassade, die bei längerer Betrachtung vor meinen Augen zu flimmern begann. Wie ein stummer Zeuge wachte sie über das Leid, den Schmerz, die Trauer und den Tod, welcher sich hinter den Mauern dieses Spitals abspielten.
Traum oder Wirklichkeit
Die langen Krankenhausaufenthalte trugen dazu bei, dass meine unbeschwerte Kindheit jäh sein Ende fand.
Unbeschwert? Ich glaube es zumindest.
Meine Erinnerungen dazu sind vage, teilweise lückenhaft und manchmal kann ich heutzutage nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Die vielen Medikamente vernebelten meine Sinne und durchlöcherten mein Gedächtnis. Einige Momente sind unwiederbringlich verloren und kommen trotz Fotos und Erzählungen nicht mehr zurück.
Ich schaute auf die Uhr. Es war kurz vor sieben Uhr morgens. Ich hatte seit mittlerweile 36 Stunden keine feste Nahrung mehr zu mir genommen. Trotz der frühen Uhrzeit herrschte schon ein hektischer Betrieb auf der Station. Schwestern gingen ein und aus, ihre weißen Kittel rauschten bei jedem Schritt und ihre Sandalen hinterließen mal quietschende, mal schlürfende Geräusche. Bald erkannte ich die Schwestern an diesen Geräuschen. Die warmherzige Nachtschwester trug Holzpantoffel und man hörte sie schon lange am klappernden Gang, bevor sie noch das Zimmer betrat.
Die wirsche, stets mürrische Oberschwester hatte einen langsamen, schleppenden Gang. Es wirkte fast so, als drückte die Last der Sorgen und Verantwortung sie schwer auf den gekachelten Klinikboden und jeder Schritt würde zum Kraftakt.
Sie betrat, ohne mich zu beachten, mein Zimmer und stellte mir grußlos einen kleinen durchsichtigen Becher auf den Nachttisch. Zwei Tabletten befanden sich darin.
Ich richtete den Blick zur Decke und sah im Augenwinkel, wie die Infusionen sich langsam tropfend einen Weg in meinen Körper bahnten. Die Schmerzen ließen endlich nach. Was aber blieb, war der seelische Schmerz. Es war eine tiefe Bedrücktheit, die schwer für Außenstehende zu verstehen war und für Ärzte noch weniger. Während sich der Hals zuschnürte und das Schlucken zur Herausforderung wurde, kroch die Schwermut in den Brustkorb. Unter großer Anstrengung wurde das Atmen nur noch zum mechanischen Prozess, lebenserhaltend.
“Der Hüftknochen ist durchlöchert wie Emmentaler Käse“, waren die Worte des Oberarztes. „Wir müssen sofort operieren, um schwere Schäden am Knochen zu verhindern“. Meine Gedanken kreisten um das letzte Gespräch vor der Operation mit den Medizinern. „Sie ist stark, sie steckt das weg“, war der lapidare Kommentar des Oberarztes, ohne mich eines Blickes zu würdigen, an seinen Assistenzarzt. Dieser machte sich eifrig Notizen, während der Oberarzt arrogant in sein Diktiergerät sprach.
Bin ich das?Stark?Was bedeutet denn stark?
Ich bin doch erst zwölf, ein Kind. Sollte ich denn nicht jetzt gerade mit Freunden auf den nahen Feldern spielen, gemeinsam die Welt erkunden und das erste Mal Liebeskummer verspüren. Wie ein Ertrinkender öffnete ich den Mund, unfähig auch nur ein Wort zu sprechen und ließ den Tränen freien Lauf, um meine Traurigkeit fortzuschwemmen.
Es beginnt mit Furcht
Ich blickte erneut auf die Uhr. In einer Viertelstunde sollte es losgehen. Zumindest war am Abend zuvor die Nachtschwester dieser Meinung. Eine kleine rundliche Frau, mit roten Wangen und einer zu hohen Stimme. Sie hatte für jeden Zeit und nahm sich mit ernster Miene den Sorgen und Ängsten der Patienten an. Ihre braunen Locken standen meist wirr ab und erweckten den Anschein, sich nicht bändigen zu lassen.
Die Ungewissheit und Furcht vor der Operation, Bedenken an der Kompetenz der Ärzte, Verzweiflung und Traurigkeit vermischten sich. Mitten in dieses Gefühlschaos, platzte der Pfleger ins Zimmer, hielt mir den Pillenbecher vors Gesicht und forderte mich auf, die Tabletten zu nehmen. Dann schob er mich mit dem Bett zum Aufzug. Die Neonröhren wechselten sich im Hell-Dunkel Rhythmus ab, ein Strudel aus Gerüchen, mal scharf und nach Chlor, dann süßlich und nach frischem Kaffee, umhüllten mich und machten mich schläfrig.
Als ich erwachte fühlte ich mich wie eingesperrt. Meine Augen waren noch geschwollen, mühsam öffnete ich sie, nahm meine Umgebung nur verschwommen und langsam wahr und versuchte mich aufzusetzen. Doch es gelang nicht. Ich tastete nach meinem Bein und fühlte etwas Hartes. Ein unbekanntes Material, rau und staubig, vermischte sich mit meinen schweißnassen Händen. Was war mit mir passiert, fragte ich mich panisch und wollte mich erneut aufsetzen. Tief atmend rief ich mich zur Ruhe, doch selbst das Atmen fiel mir schwer. Hart lastete dieses Material auch auf meinem Brustkorb, schnürte mich ein und ließ mich verzweifelt in dem Polster zusammensinken.
„Es ist leider nicht so gelaufen, wie wir gehofft hatten“, hörte ich den arroganten Oberarzt sagen. Doch diesmal war seine Stimme weich, verzweifelt und mitfühlend.
„Was bedeutet das?“, fragte ich. Diesmal war ich die, die ihm keines Blickes würdigte.
„Du wirst sicher irgendwann wieder gehen können, doch es wird etwas dauern, ein langer Weg liegt vor dir“, sagte er und wandte sich zum Gehen.
Erst nach einigen Tagen erfuhr ich, dass die Operation misslungen war. Ein Gipskorsett war die einzige Möglichkeit gewesen, meinem kaputtoperierten Körper Stabilität zu geben und mich auf das neue Leben langsam vorzubereiten. Ab der Brust bis hinunter zu den Zehen steckte ich nun darin wie in einem Sarg, unfähig mich zu bewegen, mich selbst zu waschen oder zu gehen.
Sollte das meine Kindheit gewesen sein, fragte ich mich. An den Rollstuhl gefesselt auf unbestimmte Zeit. Verzweifelt versuchte ich mich aufzusetzen, betrachtete den Gips und schluckte schwer.
Ich spürte die Tränen, den Kloß im Hals. Panik breitete sich in meiner Magengegend aus und ließ mein Herz schneller schlagen. Die ersten Tage befand ich mich wie in Trance, unfähig an den Therapien aktiv teilzunehmen oder die Worte des Arztes zu verstehen.
Eines Nachts, der Regen prasselte laut an mein Fenster und hielt mich wach, während die Gedanken wie in einem Karussell kreisten, fasste ich den Entschluss:
Ich will laufen!
Ich musste also weiter machen. Ich wollte nicht in einem Rollstuhl, geschweige denn in diesem Gipskorsett enden. Eingesperrt, ohne Würde, ohne Selbstbestimmung. Ich wollte und musste stark sein.
Eine schier endlose Zeit, vollgestopft mit Therapien, Muskelaufbau und Gehtraining lag vor mir. An manchen Tagen versuchten mich die Schmerzen in die Knie zu zwingen, meinen Willen auf eine harte Probe zu stellen und mein Durchhaltevermögen hinterrücks zu erdolchen. Doch ich gab nicht auf!
Einen Fuß vor den anderen, das sagte ich mir immer und immer wieder, wie ein Mantra, um mir selbst Mut und Kraft zuzusprechen.
Natürlich gab es auch herbe Rückschläge. Seelische Rückschläge; wenn die Kinder mit ihren Fingern auf mich zeigten oder Eltern hinter mir tuschelten. Manchmal verstand ich die kränkenden Bemerkungen und mal verschloss ich meinen Geist vor ihnen. Anderentags zeigten die Therapien nicht den gewünschten Erfolg, wenn meine Kraft für härteres Training nicht reichte. Ich war oft nur eine Haaresbreite davon entfernt aufzugeben.
Heute verstehe ich den Satz des Oberarztes. Denn Stärke und unbändigen Lebenswillen brauchte ich zweifelsohne, sonst hätte ich diese leidvolle Zeit niemals überstanden.
Der erste Schritt
Nach endlosen zweiundzwanzig Monaten war es endlich soweit. Ich machte meinen ersten Schritt! Ohne Hilfsmittel, keine Krücken, kein Rollstuhl, kein Therapeut. Dieses Gefühl, wenn man vor Glück weinen möchte, die Knie weich werden und man dennoch weiterkämpft. Die Oberschenkel brennen und alles zittert vor Anstrengung, doch man hat es aus eigener Kraft geschafft.
Das ist unbeschreiblich!
Stolz und grenzenlose Freude. Nie mehr danach war ich überzeugter von mir selbst, alles im Leben schaffen zu können.
Auch wenn diese Phase mir alles abverlangte, was ich zu bieten hatte, so hat sie mich doch gestärkt, mir meine Begabungen und Talente aufgezeigt. Mir bewusst gemacht, dass der feste Glaube an sich selbst, die Immunität gegen verletzende Kommentare und das Verlassen seiner Komfortzone die Trittsteine zum Erfolg sind, mit denen alle Hürden überwunden werden können.
Doch auch das Gefühl der Stärke und alles - wirklich alles - schaffen zu können,
hat sich ebenso in mir etabliert.
Wer hat hier geschrieben?
S. M. Syrch ist in Wien geboren, aufgewachsen in Niederösterreich und hat Betriebswirtschaftslehre studiert.
Sie ist Mitglied im Verband Österreichischer Textautoren und veröffentlichte zahlreiche Sachtexte zum Thema Sicherheit und Umwelt, schreibt Kurzgeschichten, Kindergeschichten und Reiseberichte und arbeitet aktuell an ihrem Debütroman.
S. M. Syrch erreichst du auch hier:
Diese Geschichte von S. M. Syrch ist Teil des Schreibwettbewerbs „Mut in der Krise“ und beruht auf einem persönlichen Erlebnis.
Genauere Informationen zum Wettbewerb findest du hier: Mut in der Krise.