Der Apfel fällt zu früh vom Baum

Von Redaktion

Mutmach-Geschichte

Der Apfel fällt zu früh
vom Baum

von Regina Berger

Die Zutaten:

Eine letzte Urlaubsreise in bekannte Gefilde und eine Chance trotz Corona

Apfelbaum

Vorwort der Herausgeber zur Geschichte

Das Pläne in der Corona-Zeit über die Wupper gingen, haben wir alle am eigenen Leib erfahren. Hier sehen wir, dass diese anderen Pläne eine Familie zusammenschweißen können.

Wir danken Regina Berger für Ihren Beitrag.

"Bald sind wir da!"

Eine vielleicht letzte Reise unserer Eltern, zum heißgeliebten Bodensee ist lange geplant. Wir acht Kinder, im zarten Alter zwischen 45 und 62 Jahren, haben einen finanziellen Zuschuss hierzu beigetragen.

An jedem ihrer Fest- und Ehrentage der letzten Jahre, wurde das blaubemalte Porzellanschweinchen mit kleineren und größeren Geldscheinen gefüttert. Es hatte sich seinen Platz auf der braunen Holzkommode, direkt neben dem Telefonapparat, gesichert und wurde nur an den Tisch geholt, damit Mama die Geldscheine in den kleinen Schlitz stecken konnte.

Mir sind noch heute ihre leuchtenden Augen in Erinnerung, wenn sie jeden einzelnen Geldschein ordentlich zu einem quadratischen Paket faltete, um ihn mit einem Freudenausruf „Bald sind wir da!“ im Schweinchen verschwinden zu lassen.

Hochzeitsreise und Wunschheimat

Wir freuten uns sehr, dass sie sich die Fahrt noch einmal zutrauten, um zum Ort ihrer Hochzeitsreise und Wunschheimat, in der Nähe von Lindau zurück zu kehren. Unser jüngster Bruder übernahm den Shuttleservice.

So wussten wir sie in guten Händen und auch dort gut untergebracht, wohnten sie bei ihren herzlichen Pensionsgastwirten, die inzwischen zu ihren Freunden geworden waren. Bestimmt würde dort bereits alles in der Natur in Pracht und Blüte stehen. Die Apfelbäume tragen schon stolz ihr Kleid und lassen eine reiche Ernte erahnen.

Doch dann passierte es. Die Corona-Epidemie präsentierte ihr hässlichstes Gesicht. Und zwar ganz besonders gern älteren Menschen gegenüber. Statt Vorfreude und Wohlfühlmomenten lag jetzt die Angst wie ein stählernes Netz, bewacht von einer lauernden Riesen-Spinne, namens Krankheit und Tod, über allem.

Später erfuhren wir, dass selbst die Äpfel am Bodensee viel zu früh vom Baum fielen. Sie lagen in der Wiese, ihrer Bestimmung beraubt, wie die Reise meiner Eltern, die sich leise und unbemerkt in Luft aufgelöst hatte.

Keine Fahrt, kein Urlaub, keine Abwechslung, aber dafür bis jetzt auch keine Krankheit. Im Gegenteil. Nie lebten die beiden so gesund wie in dieser Zeit. Viele Säfte schleppte einer der Brüder an und viel grüner Salat stand in Mutters Schüssel für uns beim gemeinsamen Essen auf dem Tisch. „Langt zu. Nehmt doch bitte nach. Wir brauchen jetzt die Vitamine. Schön dass ihr da seid.“

Auch wenn wir in alle Winde verstreut wohnten, der Weg zu den Eltern war eine innere Entscheidung. Wir stellten bewusst fest, dass wir eine Familie sind, die sich ihrer Wurzeln in dieser Situation, mehr als deutlich erinnerte. Klar, oft fehlte einfach die Zeit sich regelmäßig zu treffen, uns ist aber eines trotzdem noch wichtiger als je zuvor: Wir bauen uns aus dieser Not heraus ein Seelentrost-Nest.

Die Wohnung unserer Eltern war von Sorgen aber auch von Lachen erfüllt. Immer war einer der Kinder daheim und der oder die nächste folgte geschwind. Das Esszimmer als Dreh- und Angelpunkt für das Leben.

Vater erzählte von früher.Wir lauschten.Wir lernten ihn als Jungen kennen.

Vater erzählte uns von seiner Heimat und seiner längst verstorbenen Familie und wir lauschten ihm und lernten ihn nochmal als Jungen kennen, der auf dem Feld mithalf und barfuß zur Schule rannte. Ein Kind das keinen Computer und Fernseher brauchte, aber die Aufmerksamkeit und Zuneigung seiner Eltern und Geschwister.

Im Winter saß seine Familie auf dem eingeschneiten Hof in der guten Stube zusammen und sie erzählten sich Geschichten von Hausgeistern und Zottelhexen. Sie spielten mit den geschnitzten Figuren, saßen zu zweit am Samstag im Waschtrog und sangen danach Lieder, müde aber doch emsig, bis der Abend dem Tag die Augen schloss.

Der Winter brachte ihnen stets aufs Neue ein feines rituelles Zeitfenster der Gemeinsamkeit. Ein jeder hatte seinen Platz und wusste von dem anderen. Sie gingen mit meinem Großvater in den Wald und fällten den Baum für Weihnachten. Als Kleinster saß Papa auf dem Stamm und der Rest der Familie zog ihn, während er sich an den Zweigen festhielt, bis zum Hof.

Mein Vater lenkte als Kind bereits die Kutsche und die Pferde gehorchten ihm aufs Wort. Er hatte meistens Möhren oder Äpfel für sie in der Jacke und ließ sich von ihren weichen Mäulern die Kälte fortpusten.

Wir haben viel gesprochen

Wir haben viel in der schlimmen Corona-Zeit miteinander gesprochen, gegessen, gebangt und uns schließlich an das Beisammensein so sehr gewöhnt, dass wir es beibehalten werden. Die Tür bei den Eltern steht uns immer offen und wir erleben die Familienbande wie einen besonderen Schutz. Abwechslung ist reichlich da, weil wir so viele sind. Wir finden sie nicht nur in fernen Ländern, nicht nur in den Bergen und am Meer, wir entdecken die Welt unserer Vorfahren und die bindende Kraft der Gemeinschaft.

Mögen durch Krisen die Äpfel auch zu früh vom Baum fallen, weil ihre ursprüngliche Entwicklung angegriffen und aufgebraucht wird. Einem Zweck dienen sie weiterhin: Sie werden vielleicht von Menschen aufgesammelt oder aber von unterschiedlichen Tieren genossen. Sie erfüllen auf diese Weise, noch einen bis dahin verborgenen Sinn. Sie werden gesehen, verspeist, bewundert oder einfach nur als Wurfgeschoss mit einem Freudenschrei weit ins Feld geworfen.

Wir nehmen in der Corona-Pandemie dieses überraschende Geschenk des wärmenden Zusammenhaltes dankbar an. Mit ganz viel Glück gelingt es uns, diesen kostbaren Zeit-Juwel, nicht nur zu schützen, sondern ihn auch mit anderen Menschen, noch in oder nach der Corona-Pandemie, zu teilen.

Der Apfel fällt manchmal zu früh vom Baum und erinnert uns daran, dass wir Natur sind und vergänglich und vor allem auch verletzlich. Wir können das Leben nutzen, um uns gegenseitig Kraft zu schenken und einander zuhören; es wagen in die Welt des Gegenübers einzutauchen.

Die Fratze der Corona Pandemie befestigen wir an einem Winddrachen und lassen ihn auf in den Himmel steigen.

Ich suche nach alltäglichen Wundern und Spuren von Glück, die sich ganz leicht finden lassen.
Man muss nur die Augen öffnen.
Regina Berger
Regina Berger
Autorin

Wer hat hier geschrieben?

Regina Berger kommt aus einer großen Familie und wurde in Hagen geboren. Sie ist Mitglied im Verein der Schriftstellerinnen und Künstlerinnen, Wien und mit Lyrik und Prosa in zahlreichen Anthologien vertreten.

Sie lebt seit 28 Jahren in ihrer Wahlheimat Wuppertal und engagiert sich beim Bürgerforum im Stadtteil, um das Leben dort noch liebenswerter zu machen.

In ihrer freien Zeit saust sie herum und fängt Wörter wie Schmetterlinge ein. Sie hat ein kleines Buch geschrieben (2019) „Elvis auf der Himmelsleiter

Regina Berger

Diese Geschichte von Regina Berger ist Teil des Schreibwettbewerbs „Mut in der Krise“ und beruht auf einem persönlichen Erlebnis.

Genauere Informationen zum Wettbewerb findest du hier: Mut in der Krise.